Veranstaltung: | 55. VCP-Bundesversammlung |
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Antragsteller*in: | Landesversammlung VCP Hamburg (dort beschlossen am: 02.03.2024) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 04.05.2024, 11:10 |
A18: Ablösung der Spielidee in der Kinderstufe des VCP e.V.
Antragstext
Die Bundesversammlung möge beschließen:
Die Bundesleitung wird beauftragt, dass in den nächsten zwei Jahren eine neue
Spielidee für die Kinderstufe des VCP gefunden wird, welche das Dschungelbuch
ablöst. Die neue Spielidee entspricht den Normen und Werten, sowie den Zielen
der Kinderstufe des VCP. Die Bundesversammlung stimmt im Anschluss über eine
Änderung der Stufenkonzeption mit neuer Spielidee ab.
Begründung
Die Erzählungen des Dschungelbuchs von Rudyard Kipling stimmen nicht mit den Wertvorstellungen des VCP überein. Es gibt im Dschungelbuch kaum weibliche Identifikationsfiguren, ein hierarchisches System, sowie keine Möglichkeiten christlichen Glauben und Spiritualität erfahrbar zu machen. Dies hat der VCP bereits 2009 anerkannt und veröffentlichte daraufhin die VCP-Version der Mowgligeschichten.
Im Dschungelwegweiser wird auch Kritik am Autoren Rudyard Kipling formuliert, sowie sich von dessen rassistischer und sexistischer Einstellung distanziert. Rudyard Kipling vertrat eine menschenfeindliche Programmatik. Aufschluss über seine lebensphilosophische und politische Einstellung gibt unter anderem sehr klar das Gedicht „The white man´s burden“. In diesem Gedicht wird der weiße Mann dazu aufgefordert, die so genannte Last auf sich zu nehmen, die Menschen in den imperialistisch/ kolonial besetzten Gebieten zu „zivilisieren“. Diese Grundannahme, also dass für die Entwicklung, unter anderem in Indien, weiße Menschen nötig sind, wird als Legitimation des Imperialismus genutzt.
Im Dschungelbuch finden sich außerdem orientalistische Erzählweisen. Orientalismus beschreibt eine Konstruktion und Wahrnehmung der östlichen Welt durch die westliche Welt in der erstere abgewertet und zweitere über diese gestellt wird (vgl. Said 1978: 8). Die westliche Welt ist demnach der östlichen überlegen. Dies diente als Legitimierung Völker zu unterwerfen, so auch die Kolonialherrschaft europäischer Länder über Gebiete des „Orients“ (vgl. Said 1978: 10). Die Verbreitung dieser Denkweise gelang vor allem durch diverse Schriften im 19. und 20. Jahrhundert von westlichen Personen, in denen die Bewohner*innen des Orients als minderwertig beschrieben wurden. Edward Said ordnet Kipling als einen der für die Verbreitung der orientalistischen Phantasie einflussreichsten Schriftsteller ein (vgl. Said 1978: 256). Die Darstellung vom Aufwachsen eines Menschenkindes im wilden Dschungel, in dem exotische Tiere leben, sowie die stereotype Darstellung einzelner indischer Menschen im Dorf, lassen die Annahme zu, dass auch das Dschungelbuch zu diesen Werken gehört. Hannah Arendt nennt Rudyard Kipling als einen der federführenden Propagandisten der imperialistischen Ideologie (vgl. Kluge 2020: 225/ Arendt 1958: 139).
Zu dem hierarchischen System, welches im Dschungel herrscht, und welches 2009 auch schon dem VCP auffiel, gehören auch Gewalt und das Festhalten an einer „natürlichen Ordnung“. (Dschungel-)Gesetze müssen befolgt werden und Ungleichheiten zwischen den Lebewesen werden betont und hierarchisiert. Gewalt in der Erziehung wird als legitime und wirkungsvolle Methode präsentiert. Körperliche Gewalt wird heute als Strafe in der Erziehung abgelehnt. In der VCP-Version wurden die Stellen weggelassen oder ersetzt, in denen Mogli von Baghira oder Balu geschlagen wird und der Leitwolf, wenn er „zu schwach“ geworden ist getötet wird.
Die Ausrichtung Kiplings steht klar in einem Konflikt zu dem, wie wir im VCP leben und leben wollen.
Es ist anzunehmen, dass Kiplings Intentionen im VCP, auch in der Kinderstufe, weitestgehend unbekannt sind. Dies birgt die Gefahr, dass problematische Menschenbilder und Erziehungsvorstellungen unbeabsichtigt übernommen und weitergegeben wurden und werden. Durch eine neue Spielidee hat der VCP die Möglichkeit von der Kinderstufe an das zu vermitteln, wofür er steht. Diese Neuausrichtung birgt das Potential öffentlich und verbandsintern dieselben Werte zu vertreten. Durch ein angepasstes Konzept, in welchem nicht soziale Ungleichheiten betont und naturalisiert als Hierarchie konstruiert werden, könnte sich auch die Zielgruppe erweitern. Der VCP lebt demokratische Erziehung und sollte zu dieser Stärke auch öffentlich stehen.
Noch heute werden Menschen auf Grund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres Aussehens diskriminiert, die Folgen des Kolonialismus sind bis heute spürbar. Das Unsichtbarmachen von gewaltvoller Kolonialgeschichte, durch Streichung und Änderungen von Textstellen, widerspricht dem Grundsatz einer ehrlichen Auseinandersetzung und kann unserem Anspruch als VCP nicht genügen.
Quellen
- Arendt, Hannah (1958): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band II: Imperialismus. Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein.
- Kluge, Sven (2020): Das Dschungelbuch als Erziehungshilfe oder das eigene Fremde als Projektion auf die Tierwelt, in: Die Pfadfinderinnen in der deutschen Jugendkultur – Von der Gründung über die Eingliederung in den BDM zur Koedukation und Genderdebatte, Hrsg.: Breyvogel /Bremer, Wiesbaden, Springer, S. 221-258.
- Said, Edward W. (1978): Orientalismus, übersetzt von Liliane Weissberg, Ausgabe 1981, 6. Auflage, Deutschland: Ullstein.
Falls ihr nun mehr dazu wissen wollt, hier eine kurze Auseinandersetzung aus dem BDP und der Dschungelwegweiser:
- Wiebke Maiwald (AG Kolonialismuskritik, AK Flucht & Asyl) und Andrea Reis (AG Kolonialismuskritik, AK Politische Bildung) des BDP (24.03.2021): Woher kommt eigentlich das Dschungelbuch, online unter: https://www.pfa.de/stufen/woelflinge/woher-kommt-eigentlich-das-dschungelbuch/ [Stand 23.01.2024].
- VCP e.V. (2009): Dschungelwegweiser, online unter https://www.vcp.de/fileadmin/user_upload/medien/materialien/pdf/Dschungelw-egweiser.pdf [Stand 23.01.2024].
Kommentare
Kai Bendig:
Phil Kirchhofer:
Wiebke Maiwald und Andrea Reis gehören zum BdP (Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder) und nicht zum BDP (Bund Deutscher PfadfinderInnen).
Paul Steuernagel:
Henning Eimer :
Als Geschichtslehrkräfte ist uns die kritische Auseinandersetzung mit dem schweren Erbe der Kolonialzeit natürlich sehr wichtig. Wir Pfadfinder*innen tragen die große Last, dass BiPi Kolonialoffizier war und die Idee zum Pfadfinden im südafrikanischen Kolonialkrieg (Belagerung von Mafeking) hatte, wo er Jungen ab 9 Jahren unter der Führung eines 13-jährigen zu einer Einheit der Zivilverteidigung ausbildete. Aber natürlich hat sich die Pfadfinderbewegung kritisch mit dem Kolonialismus auseinandergesetzt und auch der VCP hat eine behutsam angepasste Version des Dschungelbuchs geschrieben, die Grundlage unserer heutigen Spielidee ist. Dieser kann man, wie im Antrag korrekt dargestellt, keinen Rassismus, Sexismus und Biologismus unterstellen.
Unsere Gruppenkinder identifizieren sich sehr mit der Spielidee – unsere Wolfsfamilie schließt keinen aus! Lehrmeisterin Baghira und Wolfsmutter Raksha, Wolfsvater und Akela, die vielen Wolfsgeschwister – alle halten zusammen! Der Gedanke der Spielidee ist, dass die Kinder sich mit ihrer Rolle als Wolf identifizieren, der ein sehr soziales Tier ist. So führen wir sie an die „großen“ Themen unseres Stammes, z.B. die Aufnahme geflüchteter Kinder und Jugendlicher, die freundschaftlichen Kontakte zu Stämmen in Bayern, in England und in Dnipro, die Beseitigung von Müll im öffentlichen Raum, den Respekt gegenüber der Natur usw. heran.
Raksha als die Barmherzige, die das fremde Kind aufnimmt sowie Balu und Baghira, die sich selbstlos vor der Ratsversammlung für Mogli verbürgen, bieten durchaus Anlass für die Vermittlung christlicher Werte. Und mit unserer Spielidee verbinden wir auch problemlos traditionelle Pfadi-Themen wie Waldläuferzeichen, Feuermachen, Kimspiele, Knoten, nähen, Erste Hilfe usw.
Die Arbeitshilfen für die Kinderstufe zur Spielidee Dschungelbuch sind über Jahre hinweg erstellt worden. Sie sind in besonderem Maße dafür geeignet, jungen Gruppenleitungen konkret eine Hilfe an die Hand zu geben, abwechslungsreiche Gruppenstunden zu gestalten und dabei einen roten Faden zu verfolgen, der sich über die gesamte Zeitspanne der Kinderstufe erstrecken kann: Von der Aufnahme im Dschungel bis zur Verabschiedung in die Pfadi-Stufe.
Ja, sowohl das Dschungelbuch als auch die Pfadfinder*innenbewegung haben ein koloniales Erbe und die Auseinandersetzung damit muss auch in Zukunft erfolgen. Wenn wir uns dieses Erbes aber komplett entledigen wollten, wäre das auch das Ende des Pfadfindens.
Bitte lasst uns den Dschungel!
Raksha Sigrun und Akela Henning von der Wölflingsmeute im Stamm Florian Geyer Hameln
ronge:
Darauf aufbauend halten wir es für sinnvoll, zu Beginn der Aussprache zum Antrag zunächst erstmal festzustellen, wie intensiv und flächendeckend diese Spielidee denn überhaupt im Gesamtverband genutzt wird. Beispielsweise durch Meinungsbild, wer diese Spielidee selbst in seinem Stamm miterlebt hat, bei wem sie dort aktuell aktiv genutzt wird und wer damit auf Stammesebene noch gar keinen Kontakt hatte. Dieses Wissen ist aus unserer Sicht fundamental für einen zielführenden Verlauf der Debatte, die sich ganz anders gestaltet, wenn quasi niemand diese Spielidee nutzt, als wenn sie in 80% der Stämme Verwendung findet.
Susi Heinrich: